WM | Ein Zehnkampf-Duo als Hoffnungsträger
Sie haben in der Vergangenheit nicht selten die Kastanien aus dem Feuer geholt. Leichtathletik-Deutschland ist ein Land der Zehnkämpfer, sie verbinden auch in Budapest Tradition und Hoffnung. Niklas Kaul (USC Mainz), Weltmeister von 2019 und Europameister 2022, kämpft gemeinsam mit Leo Neugebauer (LG Leinfelden-Echterdingen), dem Weltjahresbesten, am Freitag und Samstag um Medaillen bei dieser WM.
Willi Holdorf war 1964 in Tokio der erste deutsche „König der Athleten“, als er taumelnd ins Ziel fallend den Esten Rain Aun besiegte. Seitdem sind die deutschen Zehnkämpfer regelmäßig in der Erfolgsspur. Christian Schenk folgte als Olympiasieger 1988, Thorsten Voss (1987) und Niklas Kaul (2019) wurden Weltmeister, Siggi Wentz war WM-Dritter 1987 in Rom. Kurt Bendlin sowie Guido Kratschmer setzten als Weltrekordler Meilensteine in ihrer Disziplin. Frank Busemann überraschte als 21-jähriger Silbermedaillengewinner bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta. Legendär auch Jürgen Hingsen, nicht nur wegen seiner Disqualifikation bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul mit drei Fehlstarts, sondern wegen seiner drei Weltrekorde von 1982 bis 1984. Sie alle hat dieser Jungspund Leo Neugebauer jetzt überholt.
Als jüngster Weltmeister der Geschichte war Niklas Kaul ein Teil des EM-Sommermärchens im vergangenen August in München und wurde zum zweiten Mal Sportler des Jahres. „Du bist ein großes Vorbild für unsere Generation“, legte seine 17-jährige Schwester Emma ein emotionales Statement ab. In Budapest nimmt der Mainzer erneut Anlauf auf WM-Edelmetall. Diese Vorbildwirkung untermauerte der FairPlay-Preis des deutschen Sports zusammen mit dem Schweizer Simon Ehammer für den EM-Wettkampf, den die beiden „aus einem Gegeneinander in ein Miteinander verwandelt haben“.
Mit drei Wochen Trainingslager in Südafrika hat Kaul seinen bislang einzigen Zehnkampf 2023 in Ratingen vorbereitet, wo er mit 8.484 Punkten Platz neun der Weltjahresbestenliste eingenommen hat. Das Zehnkampfunternehmen Kaul ist ein Familienunternehmen. Die Eltern sind die Trainer (Lehrer), gerade mit dem Europäischen Coaching Award ausgezeichnet. Michael Kaul war deutscher Meister, Stefanie Kaul mehrfache Österreichische Meisterin über 400 Meter Hürden.
Bislang kannten nur die Insider diesen Leo Neugebauer von den Fildern bei Stuttgart. Jetzt ist der 23-Jährige der Shooting-Star der deutschen Leichtathletik und auch in den USA, wo er Wirtschaft studiert, ist er in den Medien angekommen. Im März schon hakte er mit 8.478 Punkten die Olympianorm für Paris 2024 ab. Was dann im Juli passierte, gleicht einem modernen Märchen. Neugebauer, zwei Meter groß und 105 Kilo schwer, lieferte bei den US-Studentenmeisterschaften mit sechs Bestleistungen im Zehnkampf den Wettkampf seines Lebens und schoss mit 8.836 Punkten an die Spitze der Weltjahresbestenliste. Damit löschte er den 39 Jahre alten Deutschen Rekord von Jürgen Hingsen aus. „Das fühlt sich alles sehr cool an“, sagte der schwäbische Himmelsstürmer gelassen. Seitdem ist „Leo the German“ auch im US-Sport eine Nummer, aufgestiegen wie Phoenix aus der Asche.
Mit 4.591 Punkten hat Neugebauer einen atemberaubenden ersten Tag. Sportlich sind die beiden deutschen Zehnkämpfer komplementär: Da wo Neugebauer (100 m, 400 m, Kugel) stark ist, hat Kaul noch Schwächen, und da wo Kaul sehr stark ist (Speer, 1500 m) hat der Jungspund Aufholbedarf.
Neugebauer profitiert von den idealen Bedingungen an der Uni in Austin (Texas). Sportstätten, Hörsaal, Wohnungen. Ärztliche Versorgung auf engstem Raum.
Die Uni hat einen Sportetat von 250 Millionen Dollar, die Coaches verdienen teilweise über 400.000 Dollar pro Jahr. Für Student Neugebauer fallen durch sein Stipendium keine Kosten an, 8.000 Dollar Taschengeld sind zusätzlich.
Kauls besondere Stärke: er kommt am zweiten Tag mit großen Schritten als weltbester Speerwerfer im Zehnkampf und mit überragenden 1.500 Metern zum Finale. „Egal ob Olympiasieger Damian Warner, Weltrekordler Kevin Meyer oder Pierce Laplage am Start sind, Leo Neugebauer ist derzeit der Beste und der Maßstab“, stärkt Kaul die Rolle seines Teamkollegen. „In Budapest geht es um drei WM-Medaillen. Wenn ich eine kriegen kann, ist das in Ordnung, auch wenn Leo vor mir ist,“ macht der 25-jährige Sport- und Physikstudent seine Ansprüche deutlich.
Mit gestärktem Selbstbewusstsein startet auch Leo Neugebauer in das zweitägige Unternehmen. „Im Zehnkampf kann immer alles passieren, und unerreichbar ist nichts“, lautet seine Philosophie. Auch die Fortsetzung der deutschen Zehnkampftradition ist damit möglich.
Und Teil dieser Tradition ist in Budapest auch Manuel Eitel vom SSV Ulm 1846. Mit 8.351 Punkten und Platz fünf beim Meeting in Götzis ist der 26-jährige in die Weltklasse vorgestoßen, auch zur großen Freude seines Trainers Christopher Hallmanns. Der Sportsoldat ist als 14. der Weltjahresbestenliste nach Budapest geflogen und will versuchen, den Anschluss an die Weltspitze zu verkürzen. Der Sprinttyp war nach seiner Nominierung für die WM „total happy“, denn die internationalen Titelkämpfe waren das große Ziel für den Deutschen Meister von 2022. Mal sehen, was Manuel Eitel im Sog von Niklas Kaul und Leo Neugebauer zu leisten imstande ist.