WM in Budapest ein Vorbote für Olympia 2036?
Es hat schon was, in diesen Tagen im prunkvollen Budapester Café New York zu sitzen, unter Kristallleuchtern zwischen marmorierten Säulen, um bei Kaffeehausmusik über die bevorstehende Leichtathletik-WM im fünf Kilometer entfernten neuen „Nemzeti Atletikai Központ“-Stadion nachzudenken.
Das Stadion steht direkt an der Donau, ist ein Schmuckkästchen. 310 Millionen Euro hat die ungarische Regierung ausgegeben. Aber Ministerpräsident Viktor Orbán hat noch Größeres vor. „Orbán möchte die Olympischen Spiele nach Budapest holen“, sagt der freie Sportjournalist Botond Csepregi. Einem geplanten Referendum in der ungarischen Bevölkerung, das gegen Millionen-teure Stadionbauten bei gleichzeitig maroden strukturellen Bedingungen im Bereich von Verkehr, Bildung und Gesundheitswesen gerichtet war, kam Orbán mit dem Rückzug der Bewerbung für die Spiele 2024 zuvor. Der Ministerpräsident gilt als Querkopf: er möchte Ungarn ohne die EU lenken, aber das Geld aus der Union beanspruchen. „Wir verstehen Vieles nicht mehr“, sagt eine ungarische Lehrerin aus dem Lager der Liberalen.
Orbán ist ein einflussreicher Drahtzieher auch im Sport. Warum investiert er so viel Geld in den Sport? „Er ist sportbesessen, fest überzeugt, dass der Sport Gemeinschaftsgefühl und Nationalstolz erzeugt“, sagt der regierungskritische Journalist János Kele. Mit seiner nationalkonservativen, rechtspopulistischen Partei Fidesz wolle Orbán Ungarn als internationalen Ort des Sports etablieren. Zuletzt haben in Budapest eine Reihe Großereignisse stattgefunden: Champions-League-Spiele im Fußball während Corona, Weltcup im Fechten, Olympia-Qualifikationsturnier der Ringer, die Handball-EM.
Und jetzt die Leichtathletik-WM als propagandistisches Mittel. Tamas Kiss (66), der 1992 als Trainer aus Nyirehaza nach Stuttgart kam und seitdem hier als Bundesstützpunkt-Trainer arbeitet, kennt die ungarische Leichtathletik im Detail. „Ungarn hatte immer schon außergewöhnliche Werfer und ist vor allem im Hammerwerfen sehr erfolgreich gewesen“, sagt Kiss, der mit Marie-Laurence Jungfleisch und Fabian Heinle bei der Heim-EM 2018 in Berlin zwei Medaillen gewinnen konnte und auch mit ungarischen Athleten internationale Medaillen geholt hatte.
Sechs Hammerwurf-Olympiasieger kommen aus Ungarn mit insgesamt acht olympischen Medaillen. Tamas Kiss weiß aber auch um die besondere Doping-Geschichte der Diskus- und Hammerwerfer. Adrian Annus und Robert Fazekas hatten sich u.a. mit der kreativen „ungarischen Methode, der Gießmaschine“ Doping-Sperren eingehandelt. Sie lieferten aus einer versteckten Blase sauberen Fremd-Urin und legten so die Kontrolleure herein. Kristián Pars, Olympiasieger 2012, wurde nach einer positiven Kokainprobe gesperrt. „Dies hat dem Image der ungarischen Leichtathletik sehr geschadet“, weiß Tamas Kiss. Der langjährige Bundestrainer ist etwas traurig darüber, dass seine eigenen Athleten den Sprung zur WM nicht geschafft haben.
Er kennt die gute Stadion-Infrastruktur in seinem Heimatland, u.a. mit allein sechs Bahnen in Budapest, Győr, Tatabánya, Pécs, Szolnok und Szeged. „Natürlich versucht Orban aus dem Sport Wählerstimmen zu gewinnen“, sagt Kiss, ein Großteil der 55 Prozent der Stimmen kommen aber aus dem Bereich der Rentner und alten Menschen und jenseits der Grenzen. Die ungarische Gesellschaft ist längst gespalten.
Die Leichtathletik-Begeisterung sei groß, deshalb erwarte er ein volles Stadion, nicht wie im Vorjahr in Eugene mit nicht ausverkauften Rängen, sondern eine großartige WM, sagt Kiss. Die Rolle der deutschen Athleten: eher bescheiden. Der Enttäuschung von Eugene 2022 mit nur zwei Medaillen durch Malaika Mihambo (Gold) und die 4x100 Meter-Staffel der Frauen (Bronze) folgten 16 Medaillen bei der EM im August des vergangenen Jahres in München, als Gina Lückenkemper, Julian Weber, Konstanze Klosterhalfen, Richard Ringer, Niklas Kaul Gold holten und zusammen mit über 300.000 Zuschauern im Olympiastadion für ein Sommermärchen sorgten. Was ist dies im Weltmaßstab wert?
„Wir wollten natürlich erfolgreicher sein als in Eugene, die Verletzungen machen uns aber einen Strich durch die Rechnung“, ist auch DLV-Präsident Jürgen Kessing (Bietigheim) eher pessimistisch. Die Verletztenliste im DLV ist lang: Malaika Mihambo, Alexandra Burghardt, Lisa Mayer, Bo Kanda Lita Baehre, Johannes Vetter, Hanna Klein, Konstanze Klosterhalfen und zuletzt Lea Meyer haben abgesagt. Die Verletztenliste ist weit größer als die Liste der Medaillenhoffungen.
Deutsche Medaillenkandidaten
Als Zweiter der Weltrangliste ist Speerwerfer Julian Weber (USC Mainz) der große Hoffnungsträger, Diskuswerferin Kristin Pudenz (SC Potsdam) ist als Olympia- und EM-Zweite für eine Medaille gut. Die beiden Zehnkämpfer Niklas Kaul (USC Mainz) und Youngster Leo Neugebauer (LG Leinfelden-Echterdingen) sind als Europameister und Weltjahresbester Medaillenhoffnungen. Für sonst übliche Überraschungsmedaillen bleibt wenig Raum.
Stars der WM
Sprintstar Noah Lyles (USA), Stabhochsprung-Überflieger Armand Duplantis (Schweden), Hürden-As Femke Bol (Niederland), Sprinterin Shericka Jackson (Jamaika), Jakob Ingebrigtsen (Norwegen) und die überragende kenianische Läuferin Faith Kipyegon, die in diesem Jahr innerhalb von sieben Wochen gleich drei Weltrekorde über 1500, 3000 Meter und die Meile gelaufen ist, könnten der WM ihren Glanz verleihen.