Hanna Klein: Von Tübingen über St. Moritz nach Tokio
„Die Natur hier ist einfach nur toll, es ist wunderschön zu trainieren“, sagt Tübingens Leichtathletik-Aushängeschild Hann Klein (LAV Stadtwerke), und blickt dabei von einer Bank über den St. Moritzer See hinauf in die Engadiner Bergwelt, die mit den Dreitausender Piz Corvatsch (3.457 Meter), Piz Languard (3.262) und Piz Nair (3.057) eine Traumkulisse für Olympische Ambitionen abgibt.
Sie haben alle dasselbe Ziel, die rund 50 Spitzen-Läuferinnen und Läufer aus der ganzen Welt, die hier in St. Moritz mit einem Höhentraining auf 1.800 Metern den Feinschliff für das Großereignis des Jahres vornehmen: die Olympischen Spiele Anfang August in Tokio. „Ich möchte hier Ruhe finden und mental Abstand zu den Wettkämpfen der letzten Wochen finden“, ist hier in der Schweiz das Anliegen von Klein. Ihre Reise nach Tokio ist lang und war bislang sehr erfolgreich: Bronze bei der Hallen-EM in Torun (Polen), Los Angeles, Olympianorm über 5000 Meter in Irvine (USA, 15:01,99 min), der siebte Deutsche Meistertitel in Braunschweig, Marseille und zuletzt die Olympianorm über 1500 Meter in Nizza (4:02,56 min).
„In diesem Jahr lief alles perfekt“, freut sich Trainerin Isabelle Baumann. Am Freitag ist die Tübinger Lehrerin nach dem Unterricht an der Geschwister Scholl-Schule im Auto für zwei Tage mal schnell die viereinhalb Stunden ins Engadin gefahren, um beim letzten harten Tempotraining von Klein dabei zu sein. Die Abendsonne liegt über der roten Kunststoffbahn, das Programm hat es in sich: drei Mal 1.000 Meter, drei Mal 400 und drei Mal 200 Meter. Marius Probst vom TV Wattenscheid, der kürzlich in Tübingen knapp an der Olympianorm über 1.500 Meter vorbeigelaufen war, ist als Tempomacher heraufgekommen. Isabelle Baumann läuft ständig diagonal über den sattgrünen Rasen, nimmt Zwischenzeiten, und feuert ihren Schützling an. Der Maloja-Wind bläst Hanna ins Gesicht, die Läufe tun weh, ihr Gesicht verrät dies. Das Training in der Höhe ist viel intensiver und hinterlässt die gewünschte physiologische Wirkung im Körper. Längst ist klar, dass Klein in Tokio die 1.500 Meter laufen wird. „Bei den 5.000 Meter tut‘s ab Kilometer vier weh“, begründet sie die Entscheidung.
St. Moritz sei für sie wie nach Hause kommen, sagt Isabelle Baumann, die Atmosphäre, die extrem guten, weil meist eben auf dem „Dach der Welt“, das sei einfach einmalig. Seit 1988 ist sie jedes Jahr in St. Moritz mit ihren Athleten gewesen. „Ich bin inzwischen rund 200 Mal über den Julier-Pass hierher gefahren“, ist sie selber beeindruckt von ihrer Liebe zu diesem Ort. Dieter Baumanns Silbermedaille 1988 in Seoul haben sie hier ebenso vorbereitet wie Olympiagold 1992 in Barcelona. Und dann hatte sie um den See und auf der Flugplatzrunde noch eine Reihe weiterer Läuferinnen und Läufer zu den Olympischen Spielen gebracht: Wolfram Müller, Sabrina Mockenhaupt und Tochter Jackie Baumann beispielsweise.
„Hanna ist jetzt vor Olympia in sehr guter Form“, befindet Baumann. Ihr Mann Dieter ist inzwischen als Zaungast hinzugekommen. Klein sei extrem belastbar und habe ihren Ausdauerumfang erhöht und deshalb ein gutes Niveau erreicht, sagt Baumann. „Ich fühle mich in Tübingen sehr wohl“, gesteht die gebürtige Edenkobenerin. Sie läuft gerne über den Spitzberg Richtung Hirschau oder im Kirnbachtal am Schönbuchrand. „Tübingen ist wie eine Oase für mich“, sagt Klein, die nach dem Master-Abschluss in Psychologie nun im Herbst am Tübinger Sportinstitut bei Ansgar Thiel ihr Promotionsstudium beginnen wird. Viel Spass hat sie mit ihrer WG-Genossin Jackie Baumann, die ihr als Tempomacherin zur Olympianorm verhalf. „Ich profitiere sehr von Jackie“, sagt sie über diese freundschaftliche Bindung.
Die Ziele für Tokio? Drei Runden mit Vor-, Zwischen- und Endlauf stehen auf dem Programm. „Wachsam sein im Zwischenlauf, dann ist alles drin“, sagt Isabelle Baumann. Schon bei der WM 2017 in London hat Hanna Klein mit der Finalteilnahme und Platz elf für eine Sensation gesorgt. Ein sechswöchiges Trainingslager in Flagstaff (USA) und drei Wochen in St. Moritz hat sie für ihrer großes Ziel Olympische Spiele investiert. Wer ausscheidet, muss nach 48 Stunden das Olympische Dorf verlassen. „Ich möchte so spät wie möglich nach Hause fliegen“, umschreibt die 28-Jährige ihr olympisches Ziel. Wenn sie gesund bleibt, will sie in drei Jahre in Paris einen weiteren Anlauf nehmen. Sicher in St. Moritz.