Jürgen Kessing: „Das war nicht das, was wir uns erhofft hatten.“
Jürgen Kessing, bei der WM in Eugene hagelte es viel Kritik für das DLV-Team, das nicht überzeugen konnte und hinter dem Ergebnis der letzten WM in Doha mit sechs Medaillen liegt. Wie bewerten Sie das Abschneiden?
Jürgen Kessing: „Das war natürlich nicht das, was wir uns erhofft hatten, da bleiben doch einige Erwartungen unerfüllt. Wir werden alles schonungslos analysieren: lags an der Vorbereitung, lags an der Kommunikation? Wir lagen auffällig häufig daneben. Ich muss aber auch ergänzen, dass uns mit Johannes Vetter, Christin Hussong und Caroline Schäfer sowie dem Geher Jonathan Hilbert vier potentielle Medaillenkandidaten durch Verletzungen fehlten.“
War das DLV Team mit 80 Athletinnen und Athleten nicht viel zu groß?
Jürgen Kessing: „Nicht alle haben enttäuscht. Zahlreiche Athleten und Athletinnen haben sich über das Rankingverfahren des Weltverbandes World Athletics qualifiziert. Junge Athletinnen wie Jacqueline Otchere (Mannheim), Maitje Kohlberg (Kreis Ahrweiler) oder auch Annika Meike Fuchs (Potsdam) und Christina Hering (München) sind in die zweite Runde bzw. ins Halbfinale eingezogen“.
Viele Insider im Verband kritisieren, dass die Nominierung so umfangreich erfolgte, weil der DLV so viele Punkte im Rahmen der Förderstruktur PotAS holen kann, aber auch viele keine Chance hatten, unter die besten acht zu kommen. Stimmt das?
Jürgen Kessing: „Zunächst möchte ich mal feststellen, dass diese WM zwei Jahre nach Corona auf sehr hohem Leistungsniveau stattgefunden hat. Wir kommen an PotAS nicht vorbei, weil hier der Schlüssel für die Förderung liegt. Allerdings ist nicht die Größe des Teams bei der Bewertung entscheidend, auch wenn eine WM dabei mehr zählt als eine EM. Aufgrund der Nominierungskriterien durch den Weltverband konnten wir dieses große Team nominieren, und das haben wir auch getan“.
Wo sehen Sie die Ursache einer solchen Leistungsentwicklung?
Jürgen Kessing: „Dass wir qualitativ Probleme haben, liegt auch an unserem gesellschaftlichen System. Von der Leichtathletik kann man hierzulande nicht leben, also muss man nebenher eine Berufsausbildung durchlaufen. Wenn der Fokus nicht komplett auf den Sport ausgerichtet ist, muss man Abstriche machen. Wir haben eine sehr gute Unterstützung durch Bundespolizei und Bundeswehr und wir können darauf hoffen, dass unsere teilweise sehr guten Ergebnisse im Nachwuchs sich bei den Erwachsenen auszahlen.
Inzwischen suchen junge Leistungssportler den Weg über Stipendien in die USA.
Jürgen Kessing: „Wir haben bei uns keine zentrale Steuerung, deshalb ist der Campus-Charakter bei uns auch kaum möglich. Stipendien muss man wollen: von der Familie, vom Trainer weg. Aber sicher schadet dies der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstfindung nicht. Für den Sport in Deutschland könnte dies gut sein, für die Trainer, die ihre Athleten verlieren, eher nicht“.
Von zuhause gibt es auch Kritik am Vorstandsvorsitzenden Idriss Gonschinska und Chef-Bundestrainerin Annett Stein. Teilen Sie diese?
Jürgen Kessing: „Nach der in der Pandemie im April 2021 beschlossenen Strukturreform läuft sicherlich noch nicht alles optimal. Wir werden darüber im gesamten Team reden. Ich sehe derzeit keine personellen Alternativen und man muss dem neuen Team auch Zeit für die Entwicklung geben.“
Was sagen Sie zur medialen Präsenz dieser WM?
Jürgen Kessing: „Durch die Zeitverschiebung von neun Stunden haben wir die Zuschauer zuhause in Deutschland nicht erreicht, höchstens am Wochenende. Das ist zu wenig“.
Das Hayward-Field-Stadion war mit einem Fassungsvermögen von 15.000 Zuschauern an keinem Abend ganz ausverkauft. Ist das der Anspruch einer WM?
Jürgen Kessing: „Für die Leichtathletik-Hauptstadt der USA ist das zu wenig, wenn wir da zum Vergleich Weltmeisterschaften in Rom, Helsinki, Göteborg, Berlin oder Stuttgart mit 50.000 Zuschauer oder mehr heranziehen, oder auch wie die vom DLV nach einem Sommermärchen ausgerichtete EM 2018.“
Wird die EM in München vom 15. bis 21. August ein Rettungsanker für Ihre Sportart?
Jürgen Kessing: „Für viele unserer Athletinnen und Athleten wird das ein emotionaler Höhepunkt sein, wenn man sich zurück erinnert an Olympische Spiele 1972, die EM 2002 und die tolle Heim-EM in Berlin 2018. Wir hoffen, dass das Münchner OK dies organisatorisch gut hinbekommt.“