Alina Kenzel – Glücksgefühl nach langer Leidenszeit
Mit einem Glücksgefühl ging Alina Kenzel (VfL Waiblingen) am Samstagabend aus dem Kugelstoßring. Sie hatte gerade eine zweijährige Leidenszeit hinter sich gelassen. Die einstige U20-Weltmeisterin träumte von einer Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio (Japan), den Weltmeisterschaften in Eugene (USA) und der Heim-EM in München. Doch stattdessen durchschritt die 25-Jährige ein tiefes Tal.
Zwei Corona-Infektionen in den Jahren 2021 und 2022 kamen für den Körper einer Notbremsung gleich: Atemnot, Erschöpfung, Schwindel, Taubheit in einer Gesichtshälfte. Hochleistungssport? Undenkbar. „Ich konnte kaum mehr einen Spaziergang machen, war nicht in der Lage, Treppen zu steigen“, erinnert sich Alina Kenzel. Die Vier-Kilo-Kugel, die wie das Essen zu ihrem Alltag gehört hatte, musste sie in die Ecke legen. Früher absolvierte sie jährlich 4.000 bis 5.000 Stöße im Ring, jetzt tauchte in ihrem Trainingstagebuch lediglich ein Strich auf. Verzweiflung und Trauer wechselten sich ab, manchmal brach auch beides über sie herein.
Lange Reise aus dem Tief
Helfen konnte ihr schließlich Daniel Gagiannis. Der Oberarzt der Lungenheilkunde im Bundeswehrkrankhaus in Ulm hatte eine bis dato einzigartige Sprechstunde für Spitzensportler eingerichtet, die an Post Covid litten. Wenn Atemnot, erhöhte Herzfrequenz, manchmal auch eine Dauermüdigkeit einfach nicht verschwinden wollten. Mit der Diagnose PACS (Post Accused Corona Syndrom), einer Erkrankung der Atemwege, machten sich Arzt und Patientin auf eine lange Reise. Entscheidend, sagt Gagiannis, sei eine sogenannte thermoplastische Behandlung gewesen. Dabei wurde in Kenzels Lungen mittels eines neuartigen Gefäßkatheders Wärme eingeführt, um die Lungenbläschen wieder zu weiten.
Alina Kenzel ist als Mitglied der Sportfördergruppe bei der Bundeswehr abgesichert. Der Deutsche Leichtathletik-Verband sicherte ihr seine Unterstützung zu. Auch ihr Arzt hat ihr Mut gemacht: „Alina Kenzel wird zu alter Stärke finden“, wagte Gagiannis eine Prognose, „vielleicht wird sie mit dem Erlebten noch stärker“. Er scheint recht zu haben.
Umfeld weiß, was sie durchgemacht hat
Im Januar 2023 steht Alina Kenzel erstmals wieder in der Trainingshalle am Stuttgarter OSP. „Man spürt, dass in Alina wieder ein Feuer entfacht wird“, sagt ihr Trainer Peter Salzer. Der 64-Jährige wurde 2017 zum Trainer des Jahres in Baden-Württemberg gewählt, er ist ein Experte fürs Kugelstoßen, nicht aber für Athleten, die an einer Krankheit leiden, deren Folgen niemand abschätzen konnte. Salzer sagt: „Alles war Neuland für uns. Wir werden keinerlei Druck bei der Rückkehr an die Vierer-Kugel aufbauen.“
18,05 Meter weit stößt Alina Kenzel jetzt in Stuttgart und kehrt auf Platz vier der DLV-Jahresbestenliste in die Szene zurück. Man spürt, wie viel Erleichterung da im Spiel ist. Die 25-Jährige geht sofort ans Handy, schickt eine Dankesnachricht an ihren Arzt nach Ulm. Sie bedankt sich bei allen, die ihr aus dem Tal der Tränen geholfen haben: ihrem „Dad“, ihrer Mutter, den Trainern Peter Salzer und Markus Reichle, ihren Freunden, die zu ihr gehalten haben. „Alle wissen, was ich durchgemacht habe“, sagt die eher zurückhaltende Athletin.
Ihren Schwung will sie in zwei Wettkämpfe nach Bern (Schweiz) am Freitagabend (4. August) und Thum mitnehmen. Nach einer kurzen Trainingspause beginnt die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2024 in Paris (Frankreich). Vielleicht scheint über dem Eiffelturm ja die Sonne für Alina Kenzel.
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