70 Jahre WLV: Sternstunde im Neckarstadion
Glücksgefühle von Sportlern hängen meist mit außergewöhnlichen Erfolgen zusammen. Die 800 Meter-Läuferin Hildegard Falck-Kimmich hat für zwei Sternstunden auf zwei Stadionrunden gesorgt. Vor genau 50 Jahren bei den Deutschen Meisterschaften im Stuttgarter Neckarstadion, an jenem tropisch-heißen 11. Juli 1971, hielt die Leichtathletikwelt den Atem an. Am Vorabend hatte sich Hildegard Falck-Kimmich im Sporthotel hinter dem Stuttgarter Neckarstadion zum Schlafen zwischen Schuhkartons in die von ihrem Ausrüster angemieteten kühlen Kellerräume gelegt. Tags darauf im Finale der Deutschen Meisterschaften bog Hildegard Falck-Kimmich mit großem Vorsprung auf die Zielgerade ein. Die Zuschauer auf der Tribüne sprangen auf, der Stadionsprecher hatte die historische Dimension dieses 800 Meter-Rennens erst hinter dem Ziel bemerkt. Weltrekord, 1:58,45 Min.! Falck war als erste Frau der Welt unter zwei Minuten geblieben und hatte den alten Rekord um unfassbare zweieinhalb Sekunden verbessert. Die schwäbische Gemütlichkeit geriet in diesem Moment aus den Fugen.
„Ich lief im Ziel gegen eine Kamerawand, das war natürlich ein tolles Gefühl“, erinnert sich die damals 22-Jährige im grünen Trikot des VfL Wolfsburg. Die Leichtathletik-Welt stand Kopf ob dieses epochalen Einschnitts. Sie sei einfach losgelaufen, ohne Plan, ohne Tempomacherin, die es damals noch nicht gab. Mit ihrer Zeit von Stuttgart 1971 hätte Falck-Kimmich bei der letzten WM in Doha Bronze gewonnen, bei sämtlichen Deutschen Meisterschaften bis heute den Titel.
Doch schon wenige Wochen später war die Überfliegerin auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Ein Sturz („Da wurde bereits mit Ellbogen gearbeitet“) verhinderte bei den Europameisterschaften in Helsinki mögliches EM-Gold. Im Olympiajahr war Falck-Kimmich bei den Deutschen Meisterschaften in München lediglich Zweite geworden, ihre zweite Sternstunde war nicht unbedingt zu erwarten.
Die UFA-Wochenschau vom 13. Juli 1971 zeigt eine Zusammenfassung der Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften 1971 im Stuttgarter Neckarstadion (Beginn bei 5:30 Minuten). Der Weltrekordlauf von Hildegard Falck ist ganz am Ende zu sehen.
Es folgte ein Moment, den eine Sportlerin nie vergisst. „Ich konnte im Mittelfeld mitlaufen und bin dann auf der Zielgeraden durch eine Lücke vorgeprescht“ erinnert sich der Blondschopf. Ein Jahr nach dem Weltrekord also der Olympiasieg, an einem Sonntag, der mit den Olympiasiegen des Speerwerfers Klaus Wolfermann und des Gehers Bernd Kannenberg zum „goldenen Sonntag“ aus bundesrepublikanischer Sicht wurde und im „Klassenkampf“ zwischen DDR und BRD eine bedeutende Rolle spielte. „Ich sah meinen Sport aber nie in Verbindung mit diesem politischen Kampf“, betont die in Breisach bei Freiburg lebende Ausnahmesportlerin.
Während Weltrekorde in der Leichtathletik heute vom Weltverband mit 60.000 US-Dollar honoriert werden, waren für Falck-Kimmich die materiellen Entlohnungen bescheiden. Zuhause im niedersächsischen Nettelrede spielte die Feuerwehrkappelle in einem Gasthaus für die Olympiasiegerin auf, es gab ein Armband, sechs Sektgläser, ein 400 Mark-Bekleidungsgutschein und eine prägnierte Medaille. Die Goldmedaille hat sie bis heute in einem Banksafe abgelegt.
Materiell brachten ihr die Erfolge nicht viel ein, dafür umso mehr sozialen Gewinn. „Ich hatte durch den Sport viele Menschen und Länder kennengelernt und Freundschaften geknüpft“, schätzt sie andere Werte. Die Freundschaften mit den anderen Olympiasiegerinnen wie Heide Rosendahl und Annegret Richter oder der Olympiazweiten Rita Wilden zählen bis heute. Noch wertvoller: Hildegard Falck-Kimmich hatte im Olympischen Jugenddorf 1968 in Mexiko ihren späteren Mann kennengelernt.
Sie kam aus einem bescheidenen Umfeld. Ihre ersten Trainingsläufe absolvierte sie in Ackerfurchen bei Nettelrede. Bereits mit 25 beendete die beste 800 Meter-Läuferin ihrer Zeit ihre Karriere. Wichtiger als der Sport war der Realschullehrerin die finanzielle Absicherung im Beruf. Und weil sie wusste, dass damals bereits gedopt wurde, sah sie sportlich keine Chance mehr. 12 Jahre nach dem Stuttgarter Paukenschlag lief Jarmila Kratochvilova (Tschechoslowakei) auf der Bahn des Münchner Olympiastadions, dort wo Falck-Kimmich Olympiasiegerin wurde, im August 1983 mit 1:53,28 Min. den bis heute gültigen ältesten Weltrekord in den Leichtathletik-Büchern. „Es ist unvorstellbar, dass dieser Rekord auf normalem Weg erzielt wurde“, teilt sie die Bedenken so vieler Experten.
Dreimal die Woche geht Hildegard Falck-Kimmich laufen („Laufen tut man lebenslang“). Zuletzt war sie als Zuschauerin bei den Europameisterschaften 2018 und den Deutschen Meisterschaften 2019 im Berliner Olympiastadion. „Ich bin glücklich mit meinem Leben“, lautet ihre Lebensbilanz