50 Jahre Jahrhundertspiele von München
Mit den European Championships und den Europameisterschaften in insgesamt neun Sportarten ist auch der Geist des bislang größten Sportereignisses auf deutschem Boden zurückgekehrt. Genau 50 Jahre nach den Olympischen Spielen von München 1972 erinnerte man sich an die Gastfreundschaft und Fröhlichkeit, die durch ein terroristisches Attentat zerstört wurden. Die Spiele des Jahrhunderts waren Meilensteine, im Sport, aber auch gesellschaftlich. Die Wettbewerbe, die Stimmung, die Erfolge der deutschen Sportlerinnen und Sportler sie haben an die Ereignisse von damals erinnert. Ein lesenswertes Buch führt zu den politischen und gesellschaftlichen Hintergründen der damaligen Zeit, holt aber auch die Namen großer Sportler zurück.
Ein Buch als Replik an eine bemerkenswerte Zeit
Die beiden prämierten Zeitungsjournalisten Roman Deininger und Uwe Ritzer haben auf 527 Seiten umfassend Ereignisse, Stimmungen und Widersprüchliches analysiert, eingeordnet und neu aufbereitet. „Das Buch ist wertvoll, es zeigt Lebensstränge in vielen Erzählungen und Beschreibungen auf, ich habe es zweimal gelesen“, gesteht Hochspringerin Ulrike Nasse-Meyfarth, die als jüngste Olympiasiegerin der Geschichte eine der Protagonistinnen der Spiele war.
Bunt, fröhlich, freier, ganz anders als die Nazi-Spiele 1936 in Berlin, sollten sie sein, die Spiele von München. Ein Gegenentwurf zur Nazi-Propaganda. Gerade deshalb stellen die Autoren die Jahrhundertspiele in den politischen, historischen, kulturellen Kontext. Es sind Olympische Spiele mit dem Wettkampf der Systeme: USA gegen UdSSR, BRD gegen DDR, die ihre sportliche Überlegenheit (mit 20 gegen 16 Goldmedaillen) als Sieg im Klassenkampf feiert. Sport, Olympische Spiele unpolitisch? Niemals, auch die in München nicht. Für den Westen geht es aber vor allem darum, „dass wir zeigen können, dass wir ein ganz anderes Deutschland als das von 1936 sind“, wie es der Münchner OB Hans-Jochen Vogel beanspruchte.
Beschwingte Eröffnungsfeier steht für neues Deutschland
Dieser Anspruch scheint zu gelingen: eine fröhliche Eröffnungsfeier mit beschwingter Musik, fliegenden Tauben, keine Spur von Militärmusik wie 1936, Einmarsch mit 8000 Sportlern aus 112 Ländern und über einer Milliarde TV-Zuschauern, das Comeback des Dirndl, ein zutrauliches Maskottchen (Dackel „Waldi“), die Lovestory mit dem späteren Königspaar Carl Gustav von Schweden und der Hostesse Silvia Sommerlath aus Heidelberg – es wurden Spiele unterm Regenbogen zelebriert in einer grünen Stadt mit Parks, Grünflächen und Bäumen.
Ende der 60er Jahre vollziehen sich weltweit gesellschaftliche Veränderungen: in der Bundesrepublik bildet sich die Rote-Armee-Fraktion, die mit vielen Anschlägen (und 33 Toten) das System an den Abgrund bringt. Der weltweite Terror der Palästinenser ist unterwegs. In München hat man auf Fröhlichkeit vertraut, weniger auf Sicherheitskonzepte, was fatal war, wie sich zeigen sollte.
Ulrike Meyfarth, Aki-Bua, Mark Spitz stehen für sportliche Vielfalt
Der Sport feiert sein Fest. Die Primanerin Ulrike Meyfarth hält sich nach ihrem Weltrekordsprung von 1,92 Meter die Augen zu, während sie von 80.000 Zuschauern gefeiert wird. Eine märchenhafte Geschichte, ein Sprung in die Geschichtsbücher. John Aki-Bua, der ugandische Olympiasieger über 400 Meter Hürden, rennt nach dem Zieldurchlauf einfach weiter und erfindet damit die Ehrenrunde. Aki-Bua, vom Viehhüter mit einer Steinschleuder zum olympischen Helden aufgestiegen. Am goldenen Sonntag bringen drei Goldmedaillen für Speerwerfer Klaus Wolfermann, Geher Bernd Kannenberg und Weitspringerin Heide Rosendahl das Publikum in Feierlaune. „Es tut mir leid, ich habe gewonnen“, findet Wolfermann ungewöhnliche Worte. „Ich habe Gold verloren, aber einen Freund gewonnen“, entgegnet sein lettischer Kontrahent Janis Lusis. Heide Rosendahl, die Athletin mit Nickelbrille und Ringelsocken, steigt mit ihrer Goldmedaille zur Sport-Ikone auf, wird Sportlerin des Jahres. Sie beendet mit 26 auf dem Höhepunkt ihres Ruhms ihre Laufbahn. Mit einem denkwürdigen Erfolg endet das Duell über 4x100 Meter zwischen der DDR und BRD, als Rosendahl die zweifache Olympiasiegerin Rente Stecher unerwartet niederhalten kann. „Jetzt kommt sie nicht mehr“ hat sie ihren Ein-Meter-Vorsprung vor der Doppel-Olympiasiegerin aus der DDR wahrgenommen. Die knisternde Stimmung im Olympiastadion trägt das Buch in die heutige Zeit.
US-Schwimmer Mark Spitz leitet als siebenfacher Goldmedaillengewinner vor den Augen von Tarzan-Darsteller Johnny Weissmüller die Kommerzialisierung des Sports ein. Mit der elektronischen Zeitmessung auf ein Tausendstel genau wird die Digitalisierung im Sport eingeleitet. Der Schwede Larsson gewinnt die 400 Meter Lagen mit einem Tausendstel Vorsprung. Später stellt sich heraus, dass seine Bahn um acht Millimeter zu kurz war. Die frühen siebziger Jahre stehen auch für den Aufbruch in die Computerentwicklung. Aus Japan kommen die ersten Taschenrechner auf den Markt. Dietmar Hopp und Co. gründen die Firma SAP.
München 1972 ist aber auch der Kampf der Steroide. „Manche Sportlerinnen sehen aus, als müssten sie in Männerwettbewerben starten“, heißt es da. Der damalige Bundestrainer der Kugelstoßerinnen Hansjörg Kofink (Rottenburg) verweist auf die Leistungsexplosion osteuropäischer Athletinnen im Vorfeld und kennt dafür nur einen Grund: Leistungsmanipulation durch Anabolika. Weil keine seiner westdeutschen Athletinnen wegen Chancenlosigkeit bei ungleichen Voraussetzungen für München nominiert worden war, tritt Kofink aus Protest als Bundestrainer zurück. Für ihn beginnt sein Anti-Dopingkampf über Jahrzehnte.
Ein Attentat setzt tiefe Stachel
Dann die Nacht, die den heiteren Spielen ein Ende bereiten. Spannend, beeindruckend erzählen Deininger und Ritzer die Geschichte des Überfalls und seiner Folgen in den Morgenstunden des 5. Septembers. Acht Palästinenser überfallen die Unterkunft israelischer Sportler im Athletendorf, erschießen zwei sofort. Ohne Sicherheitskonzept endet das Erpressungs-Szenario auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck im Desaster, die Befreiung war gescheitert. Neun israelische Sportler, ein Polizist und fünf Terroristen sind tot. Die Spiele haben ihre Unschuld verloren. Ein herber Rückschlag auch für Hans-Jochen Vogel und Willi Daume, die Väter der Olympischen Spiele von München.
„The games must go on“, fordert IOC-Präsident Avery Brundage bei der Trauerfeier im Olympiastadion. Der Sport darf sich nicht instrumentalisieren lassen, wird gefordert. Der palästinensische Terror hat den heiteren Spielen ein Ende gesetzt. Die Athleten wollen das Ende der Spiele, doch die Spiele gehen weiter. Der finnische Läufer Lasse Viren holte seine zweite Gold-Medaille über 5.000 und 10.000 Meter, ebenso der DDR-Sprintstar Renate Stecher über 100 und 200 Meter.
Heitere Spiele - bitterer Lorbeer
Doch der Lorbeer schmeckt bitter. Die Jahrhundertspiele sind in der Seele getroffen, die blutige Narbe des Terrors hat sich tief eingegraben. Bis heute, 50 Jahre danach.
Württemberger und die Jahrhundertspiele
Zu den Olympischen Spiele 1972 in München lassen sich auch aus württembergischer Sicht Spuren finden (unvollständig). Christiane Krause (Ulm) übernahm in der 4x100 Meter-Staffel den Platz der nach dem Halbfinale verletzten Elfgard Schittenhelm (Holzgerlingen) und wurde mit Ingrid Mickler, Annegret Richter und Heide Rosendahl Olympiasiegerin.
Willi Maier (Genkingen), Deutscher Rekordhalter und Meister über 3.000 Meter Hindernis belegte im Vorlauf Rang vier. Rolf Ziegler (SKV Eglosheim) stürmte über 400 Meter Hürden als Dritter seines Vorlaufs in den Zwischenlauf „Die achtschnellste Zeit aller Zwischenlaufteilnehmer war für mich eine zusätzliche Überraschung. Dass ich mit dieser Zeit nicht ins Finale gelangen konnte, war den Bestimmungen der Olympischen Spiele zuzuschreiben. Immerhin hatte ich mich mit den Olympiasiegern messen können, denn alle drei Medaillengewinner waren in meinem Zwischenlauf“ berichtet Ziegler im WLV-Jahrbuch von 1972. Josef „Peppi“ Schmid (Saulgau), lief als Vierter des 800 Meter-Vorlaufs in den Zwischenlauf. Rudolf Schmid (Kornwestheim) fungierte im Olympiastadion als Chefstarter. Fred Eberle (Schwäbisch Gmünd) war im DLV-Jugendlager aktiv.
Buchempfehlung von Ewald Walker:
Roman Deininger, Uwe Ritzer: Die Spiele des Jahrhunderts - Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland.
dtv-Verlag. 527 Seiten. € 25.-. ISBN 978-3-423-28303-8